Im Erfahrungsaustausch zeigt sich aus der Sicht des Psychologen, daß in vielen der Verfahren bereits beachtliche Elemente erkennbar waren, die durchaus die Bezeichnung „mediativ“ verdient hätten; intuitiv waren eine Reihe psychologischer Techniken zur Anwendung gekommen (z.B.: das „Refraiming“), mit deren Hilfe sich die Haltungen der Verfahrensbeteiligten von der Positionenzentriertheit zu einer Interessenzentriertheit gewandelt hatten. Im Ergebnis waren in der Praxis Lösungen möglich geworden, die sich viele Mediatoren in der Theorie wünschen.

Die Kollegen ereiferten sich: „Das ist doch keine Mediation!!!“. Schließlich verstoße die entscheidungsbefugte Stellung des Richters gegen die Definition der Mediation! Dessen ungeachtet wurde die Mediation als eine Art „Wegweiser“ verstanden, um die real existierende Praxis der Konfliktbehandlung positiv weiterzuentwickeln.

Das „Biotop“ Altenkirchen

In der Folge entwickelten sich tatsächlich viele interessante Experimente, in denen unter Ausschöpfung vorhandener Verfahrensvorschriften und unter Einbeziehung aller Verfahrensbeteiligter (also auch der Rechtsanwälte) die Mediation mit dem üblichen Verfahrensablauf vernetzt wurde. Zuvor hatte sich in Altenkirchen bereits ein hohes Maß an Kooperationsbereitschaft zwischen Anwälten und Gericht herausgebildet. Diese „Atmosphäre“ war so sehr spürbar, daß sich der Begriff „Biotop Altenkirchen“ aufdrängte. Das folgende Beispiel soll zur Illustration dienen, wie eine solche Vernetzung in der Praxis funktionieren kann:

Fallbeispiel

Der Anwendungsfall für eine gerichtsintegrierten Mediation: Ein Ehepaar stritt vor dem Amtsgericht Altenkirchen vehement um Scheidungsfolgesachen.
Streitpunkte waren in erster Linie die Häufigkeit der Besuche der gemeinsamen Tochter beim Vater, in zweiter Linie die Forderungen der Frau nach Unterhaltsleistungen des Mannes für das Kind und für sie selbst. Der Streit währte bereits mehrere Jahre. Richter und Anwälte zeigten sich von der Redundanz der Termine und dem Gefühl, trotz der von den Parteien gezeigten „tiefgründigen“ Diskussionsbereitschaft“ auf der Stelle zu treten, sichtlich entnervt. Als erster Schritt wurde vom zuständigen Richter beschlossen, den Mediator als Sachverständigen zum Anhörungstermin zu laden; dies erfolgte nach Absprache und mit Zustimmung der vertretenden Anwälte. In diesem „Explorationstermin“ vor Gericht deutete sich ein „Muster“ zwischen den Ehepartnern an: Es hatte sich ein „Spiel“ entwickelt, in dem die Frau sich scheinbar vor Kontakten mit dem Mann zu schützen suchte. Als Mittel wählte sie die Reduzierung der Besuchskontakte der Tochter, da hierbei immer wieder emotional aufwühlende Begegnungen entstanden. Der Mann versuchte im Gegenzug, durch Zahlungsverweigerungen (oder Herbeiführung von Zahlungsunfähigkeit), die Frau zu aktiven Schritten zu zwingen, auf ihn zuzugehen (wenn auch über den hierfür untauglichen Schritt der Anrufung des Gerichtes).
Im Ergebnis beschlossen alle Beteiligten, zunächst einige (Mediations-) Sitzungen des Paares mit dem Mediator in dessen Praxis (im Rahmen „gutachterlicher Beweisaufnahme“) durchzuführen. Dabei bestätigte sich dieses vermutete „Muster“ eindrucksvoll, das Paar hatte die Beziehung nicht gelöst. Die emotionalen Verstrickungen bestanden unvermindert fort. Da aber der direkte „Austausch“ zwischen den Beiden nicht mehr möglich war, hatten beide einen trickreichen Weg gefunden: sie hatten das „System“ so erweitert (unter Einbezug der Anwälte und des Gerichtes), daß das Gleichgewicht wieder hergestellt war. Diese „Lösung“ hätte durchaus auf Jahre (und viele, viele Gerichtstermine) hinaus weiterbestehen können.
Innerhalb der Mediation zeigte das Paar durchaus „kognitive“ Einsicht in die beschriebenen „Muster“, dennoch wurde außerhalb der Mediation keine Bereitschaft erkennbar, die gewählten Strategien zu verändern (Im Kopf war es klar, aber der „Bauch sträubte sich“). So erstattete der Mediator dem Gericht mit Einverständnis der Beteiligten einen kurzen Zwischenbericht. Es hatte zu diesem Zeitpunkt den Anschein, als sei die Mediation gescheitert.

Der Mediator wurde nunmehr mit der Erstattung eines förmlichen Gutachtens zur Frage der Besuchsrechtsregelung betraut. Als die beschriebenen Interaktionsmuster des Paares damit „öffentlich“ geworden waren, als das tabuisierte „Spiel“ aufgedeckt war, änderte sich plötzlich die Bereitschaft, zu gemeinsamen Lösungen zu finden. Auf dieser Grundlage wurden dann auch tatsächlich für beide Seiten annehmbare Regelungen vereinbart.

Zwei Jahre nach Vorlage des Gutachtens kann nun festgestellt werden: eine erneute Anrufung des Gerichtes hat bisher nicht stattgefunden. Der Anwalt der einen Partei stellte erst kürzlich fest: „Es ist seltsam, aber irgendwie hat sich etwas verändert. Herr (...) hat sich zwar noch ab und zu gemeldet, aber es scheint kein Druck mehr dazusein. Bisher waren auch keine weiteren Schritte nötig! Mir scheint, als hätten sich die Beiden arrangiert.“

Bewertung

In diesem Fall hat sich gezeigt, daß durch die „konzertierte Aktion“ nicht nur ein „Rechtsfrieden“ hergestellt werden konnte, offenbar ist in der Dynamik des Paares eine Veränderung eingetreten. Das Gutachten diente in erster Linie dem Zweck, die dem Streit zugrunde liegende emotionale Dynamik offen zu legen (auf der Grundlage des „Handwerkzeuges“ der Familientherapie). Diese Enttabuisierung ist eine quasi therapeutische Intervention, die verhindert, daß die Betroffenen „einfach so weiter machen können“, wie bisher.
Aber auch der zeitliche Ablauf spielte eine Rolle: neben der Herstellung der „kognitiven“ Einsicht braucht es für die Betroffenen Zeit, um auch die „emotionale“ Einsicht zu erwirken. Für Emotionen gelten andere Regeln als für Kognitionen. Darum sollte folgender Grundsatz beherzigt werden:

Je vehementer das Verlangen eines der am Streit Beteiligten nach einer sofortigen Regelung des Sachverhaltes vorgetragen wird, desto größer sollte die Vorsicht sein, diesem Verlangen nachzugeben.

Emotionale Prozesse benötigen Zeit, und solange die erkennbar falschen Emotionen die Entscheidungen motivieren, sollte der „Faktor Zeit“ als Gestaltungsmittel des Prozesses aktiv einbezogen werden! Integrierte Mediation, so zeigt dieses Beispiel, bedeutet zum einen also das Zusammenwirken aller am Konflikt beteiligten Personen, zum anderen zeigt es aber auch, daß mediative Elemente harmonisch in den ganz normalen Ablauf einer gerichtlichen Auseinandersetzung eingebunden werden können.

Verfahrensmittel

Werfen wir nun noch einen Blick auf die Verfahrensmittel, die im Beispielfall zur Geltung gekommen sind, und welche Bedeutung sie aus rechtlicher und psychologischer Sicht haben:

  1. Erörterungstermin nach § 118 ZPO: Aus richterlicher Sicht kann (nach herrschender Meinung) ein Erörterungstermin abgehalten werden, um die Vergleichsbereitschaft der Parteien abzuprüfen und damit das Rechtsschutzbedürfnis zu hinterfragen. Der Erörterungstermin verursacht (noch) keine Prozeßkosten. Im Beispielsfall fand auf Wunsch eines der beiden vertretenden Anwälte zunächst ein Anhörungstermin statt. Hintergrund war offensichtlich das Gefühl, daß sich im gesamten Verfahren trotz immer neuer Inhalte sehr redundante, ermüdende Muster herausgebildet hatten. Aus psychologischer Sicht ist dieser Schritt sehr bedeutungsvoll. Er definiert das Umfeld für das streitende Paar neu und kanalisiert die Energien der beteiligten „Streithelfer“, weil sie sich selbst aus der Ohnmacht des „Spiels“ befreien möchten. Für den darauf folgenden Verhandlungstermin erwies sich diese Vorbereitung als sehr wir-kungsvoll.
  2. Verhandlungstermin: Aus richterlicher Sicht ist das Gericht ohnehin gehalten, einen Güte-versuch zu unternehmen. Damit dies sinnvoll möglich ist, muß das Gericht alle, eine Güteverhandlung ermöglichenden Maßnahmen er-greifen können. In den Familiensachen hat es sich eingebürgert, daß Familienrichter ohne Robe verhandeln. Die Parteien werden unmittel-bar angesprochen Je mehr es dem Gericht gelingt die Autorität in den Hintergrund zu stellen, um so mehr kommt eine problemorientierte Diskussion mit den Parteien zustande. Die Parteien geraten immer mehr in den Mittelpunkt des Prozesses. Das Dogma aus der Diskus-sion um die Mediation, die Rolle und die Entscheidungsautorität des Richters lasse „wirkliche“ Mediationslösungen nicht zu, wird in der praktischen Erfahrung widerlegt. Im Beispielsfall wurde im ersten Verhandlungstermin für die Parteien deutlich, daß sich etwas verändert hatte: nicht nur, daß ein Gutach-ter/Mediator zugegen war, dem nach kurzer Einleitung durch den Richter die Gesprächsführung übergeben wurde, das Gericht und die beteiligten Parteienvertreter signalisierten schon durch das „Setting“ dieser Verhandlung unmißverständlich ihren Willen, die „Drehtürdynamik“ zu überwinden und gemeinsam zu einer Lösung zu finden. Im Resultat dieser Sitzung wurde mit den Parteien vereinbart, einige wei-tere Sitzungen im Rahmen einer Mediation in der Praxis des Media-tors durchzuführen. Sie hatten schnell erkannt (und honoriert), daß in diesem Rahmen über die Dinge gesprochen werden konnte, die sie bewegten. Aus psychologischer Sicht ist es außerordentlich wichtig, wie eine Me-diation zu Beginn für die Parteien definiert wird. Aus allen Erfahrungen der Familientherapie weiß man heute, daß bereits die allererste Be-gegnung (die über die „Definition der Beziehung“ zwischen Ratsu-chendem und Ratgebendem entscheidet) maßgeblich über den späte-ren Erfolg (oder auch Mißerfolg) entscheiden kann. Der Grundstock für die Bereitschaft zur Offenheit und zur Einlassung auf die Mediation wurde auch im vorliegenden Fall bereits in diesem ersten Anhörungstermin gelegt.
  3. Ruhen des Verfahrens: Aus richterlicher Sicht sollte sich das Gericht zurückziehen, wenn es sich abzeichnet, daß die Parteien eine außergerichtliche Kommunika-tion wünschen, bzw. dann, wenn der Wunsch nach Beratung oder die Chance für ein Schlichtungsverfahren besteht. Im Einvernehmen mit den Parteien kann das Gerichtsverfahren unbearbeitet bleiben, bis ei-ne der Parteien das Verfahren wieder aufruft. Einer Vorschrift, die eine Verfahrensaussetzung ermöglicht, bedarf es nicht. Im Beispielsfall wurde das Ruhen des Verfahrens für die Dauer des Mediationsverfahrens mit Einverständnis der Parteien vereinbart. Aus psychologischer Sicht ist mit dieser Verfahrensweise die Mediation als gleichwertige Option für die Parteien definiert. Damit erhält die Mediation (unausgesprochen) einen völlig anderen Charakter als in dem sogenannten „Multiple-door-courthouse-modell“, das derzeit in Fachkreisen als Möglichkeit der Erweiterung traditioneller Verfahren um die Mediation im Gespräch ist. Dort lautet die implizite Botschaft an die Parteien aber: „Wenn die Mediation vorgeschlagen oder ange-ordnet wird, dann seid ihr ein besonders schwieriger, streitsüchtiger Fall!“

Außerdem folgen Beziehungskonflikte einer eigenen, zeitlichen Logik, die überhaupt nicht mit der Terminierung in einem Verfahren überein-stimmen muß. Die wesentlichen Schritte, die zur Verarbeitung eines Konfliktes und schließlich zur Veränderung der Einstellung erforderlich sind, sind emotionaler Natur. Die Aussetzung eines Verfahrens kann also im Ablauf des Prozesses einer Konfliktverarbeitung viel sinnvoller sein, als ein Gerichtstermin mit einem für die eine Partei (oder beide) nicht zu verarbeitenden Ausgang.

  1. Gutachten: Aus richterlicher Sicht bestehen keine Bedenken, soweit psychologische Gutachten einzufordern sind, die Mediation als zulässige Explorationsmethode auszuweisen und anzuerkennen (siehe lösungsorientierte Gutachten). Gelingt der Konsens, hat sich das Gutachten erübrigt. Gelingt er nicht, hängt es von der Einwilligung der Parteien ab, ob die zur Mediation erforderlichen Explorationen auch für das Gutachten verwendet werden dürfen. Im Beispielfall konnte zwar innerhalb der Mediationssitzungen die tatsächliche Streitdynamik aufgedeckt werden, aber erst mit dem Gutachten konnte das „Spiel“ enttabuisiert werden, welches sich etabliert hatte: die Fortsetzung einer getrennten, aber nicht beendeten Beziehung unter Mitwirkung eines erweiterten Systems mit Parteienvertretern und dem Gericht als neutraler Begegnungsstätte. Aus psychologischer Sicht bietet ein Gutachten breiten Raum, um neben der Diagnose der eigentlichen Motive einer Streitdynamik auch die ganze Vielfalt möglicher „Systeminterventionen“ (z.B. familienthe-rapeutischer Interventionen) zur Anwendung zu bringen, um Konflikte aufzulösen.

Eine systematische Ausschöpfung dieses unermeßlichen Konfliktlösepotentials könnte vermutlich die Belastungssituation der Gerichtsbarkeit entscheidend entspannen.

Die vorgestellten Maßnahmen erlauben nur einen kleinen Einblick in die Möglichkeiten der Streitschlichtung. Voraussetzung ist, daß alle Beteiligten – besonders angesprochen sind die Juristen – konstruktiv zusammen arbeiten. Vor diesem Hintergrund, der von den Parteien durchaus angenommen wird, läßt sich feststellen: die Mediation kann als Methode eine wesentlich größere und schnellere Verbreitung finden, wenn sie sich als Teil eines umfassenderen Prozesses der Streitbewältigung versteht.